Vorwort des Direktors 2022

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Vorwort des Direktors 2022
Thomas Würtz


Das Jahr 2022 hat es dem OIB ermöglicht, in vielen Bereichen wieder stärker aktiv zu werden, als es wegen der Pandemie und der Hafenexplosion in den beiden Vorjahren der Fall gewesen war. Immer noch besteht allerdings die wirtschaftliche Krise im Libanon fort und die Inflation der Landeswährung hat das Land und auch die Mitarbeitenden
am Institut weiterhin beschäftigt. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass wieder weitaus mehr Menschen im Land am sozialen Leben teilnehmen können. So haben sich 2022 die Straßen wieder gefüllt, die aufgrund vorheriger Benzin- und Dieselknappheit manchmal wie leergefegt waren. Auch das akademische und kulturelle Leben hat einen erfreulichen Aufschwung genommen. Einige der internationalen Gäste, die wir im Jahr 2022 ans OIB einladen konnten, waren erfreut sich persönlich ein Bild von der Lage vor Ort machen zu können. Libanesen und Libanesinnen freuen sich inzwischen besonders, wenn Besucher aus dem Ausland kommen und sich nicht von den Negativschlagzeilen, die in den Medien weiterhin dominieren, abschrecken lassen. Neben der Arbeit an den konkreten wissenschaftlichen Projekten und den oft langfristigen Publikationsvorhaben ist es daher zunehmend eine Aufgabe des OIB, auch für unsere jüngeren libanesischen Kollegen und Kolleginnen ein mögliches Tor zu internationalen Kontakten zu sein, da Reisen weniger selbstverständlich sind als früher.
Der Beginn des Jahres 2022 war für das OIB positiv, da es die Dynamik der Feierlich- keiten zum sechzigjährigen Bestehen des OIB im Dezember 2021 aufgreifen konnte. Im Laufe der folgenden Monate konnten viele länger geplante Projekte endlich umgesetzt werden und im Herbst gab es dann einen Wechsel im Direktorat zu verzeichnen, was ein Auslaufen des Forschungsprofils "Beziehungen" mit sich brachte. Aus all diesen Faktoren resultiert eine Vielgestaltigkeit der Aktivitäten mit spannenden Begegnungen und vielen Erkenntnissen und Einsichten, von denen einige hier schon vorab präsentiert werden, um Ihre Neugier auf den Jahresbericht weiter zu steigern.
Anfang Februar erlebten wir an recht kalten Tagen zunächst die Eröffnung einer Foto- ausstellung mit Bildern von Mahmoud Dabdoub zum Leben arabischer Studentinnen und Studenten in der ehemaligen DDR, die von einer Filmvorführung zum Wirken sudanesi- scher Regisseure im ehemaligen Ostblock begleitet wurde.
Die Vortragsaktivitäten am Orient-Institut wurden von der türkischen Medizinhistori- kerin Yeşim Işıl Ülman eröffnet. Sie berichtete über die Impfpraxis im Osmanischen Reich als Bestandteil der Aktivitäten der medizinischen Schule am Galatasaray und ihrer Modernisierungsstrategie. Die Anregung hierzu hatte natürlich das Weltlebens- thema der Pandemie und ihrer Bekämpfung gegeben, aber der Vortrag führte in vielen historischen Details weit darüber hinaus.
 
Die ethischen Diskurse in der Islamischen Geistesgeschichte nahmen wir dann beim ersten größeren Workshop nach dem Jubiläum im vorherigen Jahr mit zahlreichen Forschern und Forscherinnen in den Blick. Hierbei stand insbesondere die Rolle von Typologien menschlicher Charaktere für die islamischen ethischen Diskurse im Mittel- punkt. Beteiligt waren hierbei Bilal Orfali von der American University of Beirut (AUB) sowie unser ehemaliger Stipendiat Enrico Boccacini und Fatih Ermis vom OIB.
Ende März hielt der angesehene libanesische Gelehrte Tarif Khalidi einen Vortrag über die biographische Tradition in der vormodernen arabischen Literatur, um das zentrale Jahresereignis des vom ERC geförderten Projekts LAWHA (Lebanon's Art World
at Home and Abroad) gedanklich schon einmal vorzubereiten. So waren alle bestens vorbereitet, als sich die Tore der Sommerschule zum Thema Biografien in Bewegung öffnete.
Eine andere Summer School, die in Wittenberg und Berlin abgehalten wurde, ermöglichte es Forschenden vom OIB ihre Kompetenzen im Lesen und Analysieren osmanischer Quellen, die in Form von Handschriften vorliegen, zu erweitern. Erfreulich war hierbei auch die Möglichkeit einer breiten Kooperation islamischer Institute in Deutschland und von Forschungseinrichtungen im Libanon wie dem IFPO. In Kooperation mit dem IFPO und dem ERC-Projekt "Dream" sowie der AUB fand Anfang Juni der Workshop "Revolt in(g) Collapse. Protest and Everyday Adjustments in Contemporary Lebanon" statt, der von Pierre France (OIB) organisiert wurde und die aktuelle Lage des Libanons von sehr verschiedenen Seiten beleuchtete. Juni war auch der geeignete Zeitpunkt für zwei Ver- anstaltungen zum Thema der arabischen Musik. Die Stipendiatin Rosy Beyhoum führte uns in die facettenreichen Verbindungen von Musik und Politik im Libanon des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein und die Stiftung AMAR (Arab Music Archiving and Research) gedachte mit einer Filmvorführung und einer Aufführung dem Vermächtnis des traditionellen Oud-Bauers Albert Mansour.
Im Sommer des Jahres fand dann ein Workshop zu einem dezidiert anthropologischen Thema statt. Die Forscherinnen und Forscher aus Europa, den USA und der arabischen Welt diskutierten vom 30.6.–1.7., über das Thema "Reckoning with God: Divine-Human Relations after the Arab Spring". Initiiert wurde der Workshop durch Stipendiatin
Joud Alkorani von der Radboud University in Nijmegen (Niederlande). Eine öffentliche Keynote-lecture wurde von Yasmin Moll (University of Michigan) unter dem Titel "Can There Be a Godly Ethnography? Islamic Anthropology, Decolonisation and the
Ethnographic Stance". gehalten. Als Ergebnis des Workshops wurde deutlich, dass sich das Gottesbild in vielen mehrheitlich muslimischen Gesellschaften infolge der Ereignisse nach dem arabischen Frühling gewandelt hat und die Frage der Theodizee in der Region mehr Relevanz gewonnen hat.
Am Standort Beirut wurde das erste Halbjahr mit einem weiteren von unserem Stipen- diaten Hussein Ibrahim koordinierten Workshop abgeschlossen, der in Kooperation
mit der Ludwig-Maximilians-Universität in München stattfand und sich der vielseitigen Rezeption des muslimischen Philosophen Avicenna widmete.
 
Nur wenige Tage später trat das Büro des OIB in Kairo wieder öffentlich in Erscheinung, nachdem es im April gelungen war, die Stelle einer OIB-Repräsentanz vor Ort mit
Dr Yasmin Amin zu besetzen. So konnte am 26. und 27.7. im Gebäude des DAAD, in welchem wir auch unsere beiden Büroräume angemietet haben, ein Auftaktworkshop zur Rahmenthematik des Kairo-Büros "Interdependenz von Mensch, Religion und Umwelt" stattfinden. Dieses Thema wird dann auf drei weiteren Konferenzen in den Jahren 2022 und 2023 fortgeführt. Der Workshop widmete sich dabei zunächst der religiösen Perspektive und hier insbesondere dem Ansatz einer Theologie der Ko- existenz und wurde vom Programmverantwortlichen für die Aktivitäten des Kairo- Büros Ahmed Abd-Elsalam eröffnet. Daran schloss sich die Keynote von Mohamed Habash an, der zur Brüderlichkeit der Religionen zwischen den Lehren vom Göttlichen und Menschlichen sprach.
Ende September fand die Abschiedskonferenz von Professor Birgit Schäbler, Direktorin am OIB von 2017–2022, statt. Sie widmete sich dem Thema "Labors of Love, trials of friendship. Challenges of modern social Relation". Somit fand das mehrjährige Instituts- profil "Beziehungen" nochmals einen würdigen Abschluss. Frau Schäbler wurde im Namen des Präsidenten der Max-Weber Stiftung Dank für ihre Arbeit in Zeiten zahl- reicher Krisen ausgesprochen. Ein geselliger Abend beschloss ihr fünfjähriges Direktorat und befreundete Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen überreichten ihr ein Stück Mondgestein.
Daraufhin ging die Leitung des OIB für neun Monate – bis zur Ankunft von Professor Jens Hanssen im Juli 2023 – auf mich über und das Amt des Vizedirektors übernahm übergangsweise der langjährige Bibliotheksleiter Dr Hans-Peter Pökel.
Im Oktober diskutierten wir anlässlich des Besuchs einer Gruppe von Wissenschaftlern, die im interreligiösen Dialog tätig sind, das Thema des religiösen Pluralismus im Libanon und in Deutschland. Ziad Fahed von der Notre Dame University (NDU) erläuterte die theologischen Grundlagen, die trotz aller politischen Gemengelagen für christliche Akteure inspirierend sein können, und Elie El-Hindy, Geschäftsführer der Adyan-Stiftung, zeichnete ein sehr lebendiges Bild von den Stärken und Schwächen des politischen Systems im Libanon und betonte, dass eine Neuordnung des Systems ohne Berücksich- tigung der Religionen und Konfessionen praktisch nicht umsetzbar sei. Dank des Beitrags von Aydın Süer ließ sich auch die Situation des Islams in Deutschland hierzu
in Beziehung setzen. Im gleichen Monat hatten wir Christoph Günther von der Univer- sität Mainz zu Gast. Er sprach zum Thema: "Mere Desolation? On Daesh's iconoclasm" (Daesh ist im Deutschen eher als Terrororganisation ISIS bekannt). Er ging dabei auf die Zerstörung der Nuri Moschee in Mosul (2017) und anderer symbolischer Orte ein, die auf eine Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses abziele.
Ende November sprach Christian Mauder von der Universität Bergen über die Aushand- lung verschiedener Identitäten in der späten mamlukischen Hofkultur in den gelehrten Sitzungen des Herrschers Sultan Qanisawh al-Ghawri (reg. 1501–1516) und ließ anhand der Themen Gender, Recht und Exegese die vielseitigen Verbindungen zwischen Ge- sellschaft und Wissenschaft, aber auch die historische Positionierung des Herrschers gegenüber außenpolitischen Rivalen deutlich werden.
 
Der Dezember war geprägt von der zweiten Veranstaltung des Kairo-Büros, die in Alexandria zum Thema "Religion, Religiosität und Gesellschaft" stattfand. Dabei handelte es sich nach dem ersten kleineren Workshop im Sommer um eine größere Konferenz,
die von dem ägyptischen Schriftsteller und Intellektuellen Abdul Jawad Yassin mit einer Keynote Lecture begonnen wurde, in welcher er fragte, wo Religion und Religiosität für Gesellschaften überhaupt zum Problem würden. Ein Schwerpunkt der folgenden Tage, bei der über 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ägypten, dem Libanon, Marokko, Tunesien, Oman und dem Irak sowie aus Deutschland und den Niederlanden miteinander ins Gespräch kamen, war auch der Beitrag von Religionen für den Wandel zeitgenössischer Gesellschaften.
In Beirut diskutierten wir bei der letzten Abendveranstaltung des Jahres mit Tine Gade, der Autorin des Buches "Sunni City" über den sunnitischen Charakter von Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Libanon, die aktuelle Situation und die Zukunftsperspektiven der Stadt. Ein Workshop zu Koranmanuskripten in ihrem jeweiligen künstlerischen Kontext, organisiert von Alya Karame, die im April des Jahres am OIB ihre Arbeit auf- genommen hat, versammelte hochkarätige Fachleute am OIB. Es wurde deutlich, dass während der Mamlukenzeit der buchförmige Koran zunehmend an Wichtigkeit gewann und somit dem Objekt des Korans eine verstärkte Sakralität zuteil wurde.
Auch im Jahr 2022 kamen zahlreiche Stipendiaten und Stipendiatinnen (Fellows) ans Institut. Drei Hans-Robert Roemer Fellows waren ebenfalls zeitweise Teil der Forscher- gemeinschaft am OIB: Mahmood Makvand und Qodratullah Qorbani von der Kharazmi Universität kamen aus dem Iran zu uns und Sebastian Günther von der Universität Göttingen war im frühen Herbst zu Besuch.
Mit dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), dem MENA Study Center der Maecenata Stiftung und der Katholischen Akademie in Berlin ist beginnend im November 2022 eine intensivere Kooperation geplant. Sie findet jeweils im Herbst in Berlin statt und widmet sich einem aus poltik- und religionswissenschaftlicher Sicht interessanten Thema. Das OIB ist 2022 der seit Jahren bestehenden Kooperation beigetreten.
Thema des Auftakts im November 2022 war Frauen gegen Gewalt an Frauen: Türkei, Nordafrika, Iran.
Mit der Universität Balamand konnten wir im Dezember zudem eine verstärkte Ko- operation im Bereich der Digital Humanties vereinbaren und mit dem IDEO (Institut dominicain d'études orientales) in Kairo wurde eine Kooperation für eine Konferenz zum "Religiös Anderen in der Koranexgese" für Mai 2023 in Angriff genommen und auch schon weitgehend konzipiert.
Eine Reise zur Buchmesse in Sharja und zur Mohammed Bin Rashid Bibliothek in Dubai wie auch dem National Heritage Center in Abu Dhabi führte der Leitung des OIB vor Augen, dass sich deutsche Institutionen, die in der arabischen Welt akademisch und publizistisch aktiv sind, stärker am arabisch-persischen Golf engagieren sollten.
Die Gewichte des intellektuellen Lebens verschieben sich, durch Universitäts- und Bibliotheksgründungen beflügelt, doch eindeutig in diese Region.
 
Eine sehr praktische neue Entwicklung verdient hier ebenfalls noch Erwähnung. Angesichts der Energiekrise, die auch das OIB betrifft, wurde eine Solaranlage auf dem Dach des Instituts installiert, um gegen eine stets mögliche erneute Verschlechterung der Versorgungslage gewappnet zu sein. Die Installation der Solaranlage und ihr reibungsloses Funktionieren erforderte es dabei, dass zahlreiche Stromleitungen im historischen Gebäude des Instituts erneuert werden mussten.
Alle vergangenen und kommenden Aktivitäten sind ohne die Mitarbeiter und Mit- arbeiterinnen am Orient-Institut Beirut nicht denkbar. Ihnen allen möchte ich in Zeiten des Übergangs und Neuanfangs ganz herzlich danken. Zu wirklich besonderem
Dank bin ich dabei meinem Stellvertreter in der Übergangszeit, Hans-Peter Pökel, verpflichtet, der das OIB und mich persönlich auf großartige Weise unterstützt hat. Ich wünsche Ihnen eine ertragreiche und vielseitige Lektüre dieses Jahresberichts, der visuell das Thema Bäume aufgreift und somit nicht zuletzt auf die bleibende, wenn auch bedrängte Schönheit der Natur des Landes verweist. Ihr Grün ist auch
ein traditionelles Symbol der Hoffnung. Hoffnung, die der Libanon auch in Zeiten wieder erwachten kulturellen und akademischen Lebens sicher weiterhin braucht.