Jedes Jahr hat der Direktor des Orient-Instituts in Beirut die Gelegenheit, auf das vergangene Jahr zurückzublicken und die akademischen Aktivitäten des Instituts vorzustellen. Dies ist mein erster Jahresrückblick. Ein solcher Rückblick sollte sich auf das vergangene Jahr beziehen und kurz nach Jahresende fertig sein. Das ist hier nicht der Fall, denn wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation, in der viele Menschen, deren Leben, deren Vergangenheit und deren Zukunft uns sehr wichtig sind, existenziellen Gefahren ausgesetzt sind.
Es ist nicht so, dass wir im vergangenen Jahr keine herausragenden Veranstaltungen organisiert und durchgeführt hätten. Der umfassende Jahresbericht 2023, den meine KollegInnen Dr. Thomas Würtz, Sarah el-Bulbeisi und Sami Khatib jetzt vorgelegt haben, spricht für sich. In diesen Zeiten fällt es mir jedoch sehr schwer, mich auf die akademischen Leistungen des OIB zu beschränken und die Tatsachen zu ignorieren, dass Israel seit den Hamas-Massakern vom 7. und 8. Oktober letzten Jahres im Namen seines Rechts auf Selbstverteidigung einen Angriff auf den Gazastreifen ausführt, der laut UNO ExpertInnen und dem Internationalen Gerichtshof, wie auch für die meisten unserer KollegInnen in der Region, die Grenzen der völkerrechtlich zu beachtenden Verhältnismäßigkeit bei der Selbstverteidigung sprengt. Inwieweit dies zutrifft oder rechtlich einen Völkermord darstellt, obliegt letztlich der abschließenden Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.
Aufgrund der gemeinsamen Geschichte, die Israel und den Libanon seit Jahrzehnten trennt, hat auch der Libanon von Anfang an im Visier der israelischen Kriegsführung gestanden. Zeitungsberichten zufolge wurde ein Präventivangriff auf den Libanon unmittelbar nach dem 7. Oktober nur durch die Vermittlung von US-Präsident Biden vorerst abgewendet. Seitdem fürchtet der Libanon einen israelischen Angriff.
Was hat das für uns im vergangenen Jahr konkret bedeutet? Auf Anraten des Auswärtigen Amtes haben die deutschen ForscherInnen Mitte Oktober letzten Jahres das Land verlassen. Andere MitarbeiterInnen kamen ab und zu ins Büro, der Rest arbeitete im Home-Office. Es gab und gibt Evakuierungs- und Notfallpläne, auf die man zurückgreifen kann.
Ende November kehrten alle ForscherInnen zurück, um den Betrieb des Instituts so ‚normal‘ wie möglich fortzusetzen. Wir haben auch die Bibliothek für MitarbeiterInnen und angeschlossene ForscherInnen wieder geöffnet. Allerdings haben wir öffentliche Veranstaltungen vor Ort abgesagt. Stattdessen haben wir beschlossen, größere Veranstaltungen mit PartnerInnen in Deutschland und anderen Ländern zu organisieren. Unsere Konferenzen im Jahr 2024 finden in Berlin, München, Kassel und Princeton statt, in Kooperation mit anderen Max-Weber-Instituten auch in Istanbul und Delhi oder in unserer eigenen Außenstelle in Kairo.
Das OIB verfügt über langjährige Erfahrung, unter schwierigen Bedingungen zu arbeiten. Auch meine Vorgängerin musste das Institut unter extremen Bedingungen leiten: dem finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch des Libanon, dem Volksaufstand gegen Korruption und Konfessionalismus, der Hafenexplosion, die große Teile der Stadt zerstörte und über zweihundert Menschenleben kostete und der Covid-Pandemie.
In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, auf die historischen Erfahrungen des Instituts einzugehen, denn unser institutionelles Gedächtnis ist sehr lebendig. In diesen Zeiten kommen die Erfahrungen, Erinnerungen und Geschichte des Instituts immer wieder in die Köpfen meiner KollegInnen zurück. Sie sind auch Thema bei unseren regelmäßigen Treffen, bei denen alle MitarbeiterInnen dreimal die Woche die Möglichkeit haben, sich zu informieren und auszutauschen.
Unser Institut gehörte früher zur 1845 gegründeten Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Die DMG kaufte 1963 die Villa Farajallah, in der seither unsere prächtige Bibliothek mit über 145.000 Titeln für registrierte ForscherInnen zugänglich ist. Seit 2002 ist unsere Arbeit hier unter dem Dach der Max Weber Stiftung weiter gewachsen. Unsere Arbeit im Libanon hat eine lange und reiche Geschichte. Wir sind Gäste in diesem Land, gewiss, und doch fühlen wir uns tief verbunden und integriert. Und genau das ist es, was derzeit auf dem Spiel steht.
Während des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 haben die MitarbeiterInnen des OIB ihr Leben riskiert, um den Betrieb des Instituts aufrechtzuerhalten, auch nachdem sie auf sich allein gestellt waren, als die deutschen Entsandten 1987 plötzlich das Land verlassen mussten. Während des gesamten Krieges befand sich das OIB in der Nähe der Grünen Linie, die Beirut in Ost und West teilte. Dennoch haben meine Vorgänger Bachmann, Haarmann, Rotter und Heinen das Institut mit Klugheit und größtmöglicher Rücksichtnahme auf alle Befindlichkeiten und rechtlichen Tücken im Land geführt. Auch die Erinnerung an den israelischen Einmarsch in den Libanon im Sommer 2006 ist im Institut noch allgegenwärtig. Die Bomben fielen so plötzlich, unter anderem auf die südlichen Vororte von Beirut und auf den Flughafen, dass deutsche OIB-MitarbeiterInnen teilweise Hals über Kopf - und auf dem Landweg - evakuiert wurden.
Das OIB steht seit über sechzig Jahren für eine Kontinuität, die im Lande hoch geschätzt wird. Unsere libanesischen Kolleginnen und Kollegen - innerhalb und auch außerhalb des Instituts - spiegeln wider, wie sehr sie es schätzen, dass das OIB trotz aller politischen Einschränkungen dazu beigetragen hat, dass Beirut das wissenschaftliche Zentrum in der arabischen Welt geblieben ist. In dieser Stadt, in der sich die Geschichten der gesamten Region und der Großmächte kreuzen, wird so frei, kritisch und pluralistisch geforscht, wie es Kriegszustände und militärische Besetzungen zulassen. Und wir sind entschlossen, die Praxis der akademischen Freiheit auch unter diesen Umständen zu bewahren und zu verteidigen.
Gerade deswegen ist es erfreulich zu berichten, wie groß das Interesse an Kooperationen und gemeinsamen Veranstaltungen des OIB im Libanon und darüber hinaus nach wie vor ist.
Im Januar 2024 haben wir uns mit „Der Divan - das arabische Kulturhaus“ in Berlin zusammengetan und gemeinsam mit unseren Partnern in Princeton die erste von drei Konferenzen zum Thema „Global Weimar/Global Nahda“ durchgeführt. Im März haben wir unsere neue und sehr lebendige Kohorte von sieben DoktorandInnen und PostdoktorantInnen aus Deutschland, dem Libanon und den Vereinigten Staaten am Institut begrüßt. Für sie haben wir ein Theorie- und Methodenseminar und ein Kolloquium über libanesische und syrische Studien ins Leben gerufen, die von Dr. Zeina Halabi bzw. Dr. Carol Hakim geleitet werden.
Leider mussten wir unsere lang erwartete Konferenz „Crisis, Memory & Critique“ verschieben. In der Zwischenzeit haben wir uns mit Prof. Ulrike Freitag zusammengetan, um gemeinsam Nahostvorlesungen an der Freien Universität Berlin zu veranstalten, unter anderem mit Prof. Avi Shlaim am 21. Mai. Außerdem entwickeln wir eine Kant@300-Vorlesungsreihe, die im April 2025 mit einer öffentlichen Vorlesung von Prof. Andrea Esser (Universität Jena) in Kairo ihren Abschluss finden wird. Wir sind besonders stolz darauf, Forschungs- und Veranstaltungskooperationen mit Partnern im Libanon, wie dem Arab Council for the Social Sciences (ACSS), dem Institute of Palestine Studies (IPS), dem UMAM Documentation and Research Centre, dem Finnish Institute in the Middle East (FIME) und der Lebanese Association for Ottoman Studies, sowie mit internationalen Partnern, wie dem neuen Merian Centre an der Université de Tunis (MECAM), der Princeton University und der Tokyo University of Foreign Studies durchzuführen.
Heute ist das OIB auch ein unverzichtbarer Teil eines globalen Max-Weber-Netzwerks, das sich von Delhi und Tokio bis nach Washington, Paris und Moskau erstreckt. Die Zusammenarbeit zwischen den Instituten wächst, und die drei Standorte im „globalen Süden“ (Beirut, Istanbul, Delhi) werden als kritische Werkstätten für wissenschaftliche Selbstreflexion geschätzt.
In diesem Jahr ist mir klar geworden, wieviel mehr als Leiter eines deutschen Instituts im Ausland auf dem Spiel steht als bei einer ordentlichen Professur in Kanada, insbesondere in der Rolle als unabhängige gesellschaftliche Instanz. Hierzu ist Immanuel Kants Klassiker „Was ist Aufklärung?“ heute aktueller denn je. Es ist mir bei der erneuten Lektüre bewusst geworden, dass bei allen notwendigen Einschränkungen, die ein Amt in einem öffentlich-rechtlichen Institut mit sich bringt, dem Kant‘schen Prinzip des öffentlichen Gebrauch der Vernunft gerecht werden muss. Als ForscherInnen fühlen wir uns diesem Grundsatz verpflichtet. Ich zitiere:
Der öffentliche Gebrauch der Vernunft von Gelehrten muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Lesewelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf.
In diesem Spagat zwischen „Amt und Lesewelt“ sehe ich auch meine Berufung im und zum intellektuellen „Brückenbau,“ zwischen der Förderung des kritischen Dialogs mit den KollegInnen in der Region und der Kritik der öffentlichen Wahrnehmung an vielen Plätzen der Welt. In dieser Hinsicht besteht die Bürde des OIBs darin, widersprüchliche Realitäten unabhängig und bifokal zu erfassen, denn der Nahostkonflikt ist selbst eine solche Realität voller Widersprüchlichkeiten, vor Ort, in Deutschland und auch weltweit.
Nachkriegsdeutschland hat eine historische Verantwortung gegenüber den Opfern des Holocaust. Aus dieser Verantwortung erwächst Deutschlands besonderes Verhältnis zum Staat Israel und seiner Bevölkerung. Wie diese Verantwortung politisch gestaltet wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden, gerade auch im Hinblick auf den Gaza-Krieg und die darin verübten Kriegsverbrechen, ist Gegenstand notwendiger Debatten. Diese Debatten erreichen auch das OIB. Wir können und werden ihnen nicht ausweichen.
Die Geschichte Palästinas ist seit den Ursprüngen der DMG in der spätosmanischen Zeit mit der Deutschlands verflochten. Die meisten der heute in Deutschland lebenden PalästinenserInnen sind jedoch erst nach der israelischen Invasion 1982 aus dem Libanon geflohen oder sind deren Nachfahren. Wie unsere wissenschaftliche Referentin Dr. Sarah el-Bulbeisi in ihrer 2020 erschienenen Doktorarbeit Tabu, Trauma und Identität erläutert, führen die Palästinenser in Deutschland ein Dasein zwischen Staatenlosigkeit, Kettenduldung und Arbeitsverboten, kollektiver Bestrafung, Scham und Selbstverleugnung.
Den PalästinenserInnen fehlt in Deutschland nach wie vor die gesellschaftliche Anerkennung. Die deutsche Debatte um den aktuellen Krieg gegen den Gazastreifen zeigt auch oft, dass es im öffentlichen Sprechen über Palästina häufig an Expertise fehlt. Hier könnte die Wissenschaft helfen: Mit der Schaffung eines akademischen Raums, der es ermöglichen würde, die Geschichte der PalästinenserInnen zu erzählen und unter ihren epistemischen Prämissen zu analysieren. Wenn eine Gruppe weitsichtiger Menschen den Mut aufbrächte, in Deutschland ein Institut für Palästina-Studien zu gründen, einen akademischen Ort, an dem - im Einklang mit dem Grundgesetz und auf der Grundlage völkerrechtlicher Prinzipien - kollegial miteinander umgegangen und nach international wissenschaftlichen Standards über Palästina geforscht werden könnte, dann wäre das auch ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft.
Versuchen wir also zuversichtlich zu sein, dass die Überlebenden des Kriegs gegen den Gazastreifen und der anhaltenden militärischen- und Siedlergewalt endlich die Rechte erhalten, die ihnen zustehen. Lassen Sie uns den Mut aufbringen, uns eine bessere Zukunft vorzustellen, in der alle Menschen in der Region in Frieden und Gerechtigkeit leben können.
Ich möchte an dieser Stellen allen OIB MitarbeiterInnen für ihre Arbeit und den unglaublichen Team-Geist der letzten Monate danken: Unserem Vizedirektor Thomas Würtz, der als Interims-Direktor in der Zeit bis zu meinem offiziellen Amtsantritt die Pflichten des Direktors übernommen hat, unseren DirektoratsassistInnen Caroline Kinj und Hussein Hussein; unseren/ wissenschaftlichen MitarbeiterInnen Sarah el-Bulbeisi, Fatih Ermiš, Ahmed Abd el-Salam, Christian Thuselt, Carol Hakim, Sami Khatib, Nadia von Maltzahn, Zeina Halabi und Yasmin Amin; unseren BibliothekarInnen Peter Pökel, Dina Banna, Fatima Shaheen, Nasma Tayara; unserer Verwaltungsleitung um Angelika Sadek und Nirvana Ghandour; die IT Spezialisten David Kattan und Patrick Mzaaber; das HerausgeberInnen-Team Barraq Zakaria und Micheline Kachar Hani; und, last but not least, das Haushaltspersonal Mohammad Siala, Rabia Omeirat, Ali Wehbe und Walid Bitar. Und ich danke von Herzen meiner Frau, besonders dafür, dass sie immer einen Weg gefunden hat und den Glauben an die Menschlichkeit nicht aufgegeben hat.
Herzlichen Dank an Sie alle für die Unterstützung und Ihre Hingabe, Ihr Engagement für die Forschung und den Fortbestand des Instituts, die gemeinsame Auseinandersetzung mit schwierigen Themen, das gemeinsame Lachen, den Mut zum Widerspruch, den Sinn für uns als Team und für uns als Institut. So schwierig die Zeiten auch sein mögen, die vor uns liegen, ich bin zuversichtlich und voller Vorfreude auf die produktive Zusammenarbeit und die Herausforderungen, die die kommenden Jahre für uns bringen.