Am Abend des 26. Novembers letzten Jahres klingelte gegen 19 Uhr in Berlin mein Telefon. Am anderen Ende der Leitung war der Sicherheitsbeamte der deutschen Botschaft in Beirut.
„Herr Hanssen, befinden sich bei Ihnen im Institut noch Mitarbeiter?“ „Ja, unser Pförtner und möglicherweise weitere Hausangestellte.“
„Holen Sie sie sofort da raus!“
Was war diesem Anruf in den letzten elf Monaten vorausgegangen?
Mit verhaltener Zuversicht, dass der israelische Vergeltungskrieg gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen drei Monate nach dem Hamas-Massaker bald ein Ende finden würde, kehrten wir Anfang Januar 2024 nach Beirut zurück. Obschon es gleich am 2. Januar ein israelisches Attentat auf eine Hamas Zelle in den südlichen Vororten von Beirut gegeben hatte, waren wir hoffnungsvoll, dass die Waffenruhe und der Gefangenenaustausch bald kommen würden.
Doch diese Hoffnungen wurden nicht erfüllt. Ende März griff Israel Ziele in Aleppo an, dann das iranische Konsulat in Damaskus. Es wurde immer deutlicher, dass die Hizbollah ihre Abschreckungsfähigkeit und die Biden-Regierung ihre Deeskalationsfähigkeit verloren hatten. Der Libanon war im Verlauf des Jahres massiven israelischen Militärangriffen ausgesetzt.
Wir mussten Veranstaltungen an Orte außerhalb Beiruts legen, z.B. in unsere Außenstelle in Kairo, um die Sicherheit der teilnehmenden KollegInnen zu garantieren bzw. eine Teilnahme an Veranstaltungen auch für Kolleg:innen zu ermöglichen, die wegen der Sicherheitslage nicht nach Beirut einreisen konnten oder durften. Durch wissenschaftliche Kooperationen konnten wir Veranstaltungen in Berlin, Kassel, München, Istanbul, Paris, Rom, Fez, Princeton und Toronto durchführen. Auch war das OIB in den deutschsprachigen Medien sehr präsent, insbesondere durch Dr. Sarah el-Bulbeisis zahlreiche öffentliche Auftritte und die Zeitungsartikel unseres Stipendiaten Jan Altaner.
Am Institut selbst kümmerten wir uns um den Ausbau der IT- und Solarinfrastruktur, Reparaturen und Renovierungen. Auf der hinteren Terrasse im Garten finden nun siebzig Zuhörer:innen Platz. Ebenso trafen wir Sicherheitsvorkehrungen für unsere Kolleg:innen; wir bauten einen Notfallausgang aus dem Schutzraum im Keller; und boten einen Erste-Hilfe-Kurs an. Die Botschaft führte ein Sicherheitstraining durch, um Evakuierungsszenarien zu besprechen und die „Befehlskette“ in Bezug auf das Satellitentelefon zu proben. Immer wieder gab es Ansagen, man solle eine Art „Notfallkoffer“ mit dem Nötigsten parat haben, es wurde nach Ausweichunterkünften in den Bergen gesucht, die von Kolleg:innen auch genutzt wurden, deren Gebäude von der israelischen Bombardierung beschädigt wurden.
In dieser ungewissen Zeit konnten unsere Stipendiat:innen leider nur einen einzigen unseres beliebten „Open Garden“ organisieren, und zwar am 27. Juni. Einen Monat später trat das ein, was wir mittlerweile immer mehr befürchteten. Am 27. Juli traf eine fehlgeleitete Hizbollah Rakete einen Sportplatz in Majdal al-Shams im annektierten Golangebiet und tötete zwölf Jugendliche und weitere drusische Anwohner. Diese Tat überschritt alle Grenzen für die israelische Regierung, die daraufhin beschloss, die Führung der Hizbollah überall dort anzugreifen, wo sie sich gerade bewegten – Kollateralschäden hinnehmend. Israelische Drohnen kreiste 24-Stunden lang über unseren Köpfen. Die ausländischen Organisationen wurden nervöser.
Dann verübte Israel die alles verändernden Pager-Attacken am 17.09. 2024. An dem Tag waren wir mit libanesischen, syrischen und palästinensischen Freunden und Kolleginnen in der Saydeh al-Dukhul Kirche in Achrafieh, um von einem kürzlich verstorbenen Freund, dem arabischen Schriftsteller und Intellektuellen Elias Khoury, Abschied zu nehmen. Auf dem Rückweg von der Kirche war überall Panik. Wir sahen Krankenwagen und Menschen, die versuchten, Verletzte, quer über ihren Beinen liegend, auf ihren Motorrollern in Krankenhäuser zu bringen. Die Stadt, das Land, die Menschen standen unter Schock. Das war eine neue, nie dagewesene Form der Kriegsführung.
Zehn Tage nach diesen Attacken trafen rund ein Dutzend Clusterbomben die unterirdische Kommandozentrale von Hasan Nasrallah und der Hizbollah Führungsriege in der Dahiyeh. Die ganze Stadt bebte, und auch das Institut zitterte.
Der wissenschaftliche Beirat und der Geschäftsführer der Max-Weber Stiftung, Herr Rosenbach, schalteten sich mehrmals zu unseren wöchentlichen Krisensitzungen, um zu hören, wie es uns geht und gegebenenfalls zu helfen. Im Institut gab es eine Freigabe zum Homeoffice und zugleich die Bitte, bei Aufenthalten im Institut kein System nach außen erkennen zu lassen, wer sich wann vor Ort aufhält.
Schließlich erhöhte das Auswärtige Amt die Sicherheitsstufe auf 3a und forderte alle Mittlerorganisationen auf, dem Beispiel der Botschaft zu folgen und alle nicht-essenziellen Entsandten aus dem Libanon abzuziehen. Am OIB entschieden wir uns, alle ausländischen Mitarbeiter:innen zur Ausreise aufzufordern. Einige taten dies auf den Bundeswehrmaschinen, die das Auswärtige Amt zur Verfügung stellte, und ein Referent fuhr mit Familie per Schiff von Tripoli in die Türkei. Das Institut wurde ab dem 1. Oktober 2024 für den „Besucherbetrieb“ geschlossen. Zu keinem Zeitpunkt allerdings stand das OIB leer. Unsere lokalen Kolleg:innen vom Direktorat, der Verwaltung und der IT-Abteilung schauten regelmäßig nach dem Rechten. Und auch unser Hausmeister war immer wieder vor Ort.
Die israelischen Raketen schlugen immer näher und näher ein. In der Nacht zum 3.10.2024 dann wurde ein Gebäude im institutsnahen Viertel Bashura dem Erdboden gleich gemacht. Zu diesem Zeitpunkt waren wir gerade nach Kairo gereist, um dort mit Kolleg:innen alternative Veranstaltungsorte für gewisse Kooperationsprojekte zu sondieren. Hilflos mussten wir von dort mit ansehen, was in Beirut und dem Libanon geschah. Ein Artikel in der F.A.Z. vom 16.10.2024 beschreibt dies recht eindringlich.
Über zwei unendlich lange Monate hinweg, in den Dezember hinein, wurden viele Dörfer im Südlibanon förmlich von der Bildfläche radiert; in Baalbek entging der Jupitertempel nur knapp (um ein paar Meter) einem israelischen Raketenbeschuss; und mit jedem Tag nahm die Verwüstung der Dahiyeh zu. Überall im Land machte die israelische Luftwaffe Jagd auf vermeintliche Hizbollahmitglieder. Nur zu oft trafen sie Unbeteiligte. Viele Angriffe wurden auf sogenannten „Gebäude-Hit-Lists“ auf einem Social-Media-Kanal der israelischen Armee angekündigt. Manchmal wurden genau diese Ziele auch tatsächlich getroffen, meistens aber auch andere in der Nähe; immer jedoch lösten die „Hit-Lists“ Panik in der Bevölkerung aus. Es herrschte Angst und Schrecken in der Stadt, wer konnte, ging in die Berge, doch selbst da fühlte niemand sich wirklich sicher. Die Zukunft war ungewiss. Die Stadt war voller Vertriebener, die notdürftig auf den Straßen und Plätzen campierten oder in Schulen untergebracht wurden, so auch in der Schule neben dem OIB. Wir mussten uns besser schützen, da die Flüchtlingshilfe der Hizbollah das Institut zunächst auch für eine Schule hielt, und weil später Unbekannte unsere Solar-Strom-Versorgung anzapften und andere Personen versuchten, über den Zaun auf unser Gelände zu gelangen.
Das war die prekäre Lage, in der sich das Land und das Institut befanden, als der besagte Anruf in Berlin am Vorabend der Waffenruhe zwischen Israel und dem Libanon einging. Warum diese Dringlichkeit? War das Institut etwa auf einer der Hit-Lists?
Und tatsächlich: der Bundespolizist am Telefon hatte glaubhafte Informationen darüber erhalten, dass das OIB direkt getroffen werden könnte. In aller Eile wiesen wir die noch Anwesenden an, das Gelände umgehend zu verlassen oder in unserem neuen Schutzbunker Unterschlupf zu suchen. Es war eine lange und angstvolle Nacht für alle. Am Ende blieb das Institut, bis auf sechs ramponierte Solarzellen auf dem Dach verschont.
Kaum hatten wir uns von diesem Schrecken erholt, überschlugen sich ganz unverhofft die Ereignisse in Syrien. Innerhalb weniger Tage überrannten HTS-Milizionäre Aleppo, Hama, Homs und Damaskus. Bashar al-Assad floh in einer Nacht- und Nebel Aktion am 8.12.2024 nach Moskau. Wir konnten es alle kaum fassen. Das Assad-Regime, auf Ewigkeit angelegt, war wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Die Bilder aus Saydnaya und anderen Gefängnissen, die Wiedersehensszenen von Familien, die seit Jahren und Jahrzehnten voneinander getrennt waren und nicht wussten, ob ihre Verwandten überlebt hatten, gingen vielen von uns unter die Haut. Die Möglichkeit, dass wir wieder nach Syrien reisen können, dort forschen und wissenschaftliche Kooperationen anvisieren können, hat uns in den letzten Tagen des Jahres 2024 positiv gestimmt.
Und auch im Libanon kam nach dem militärischen Zusammenbruch der Hizbollah zum Jahreswechsel Bewegung in den über zwei Jahre andauernden parlamentarischen Stillstand. Die Wahl von Joseph Aoun zum libanesischen Präsidenten am 9. Januar 2025 und die Ernennung von Dr. Nawaf Salam zum neuen Premierminister würde in einer stabilen Weltlage zu Rekonvaleszenz und Reform im Land führen. Leider verheißen die Gespenster des Völkermords und der konfessionalistischen Gewalt in der Region, des Faschismus und Rassismus in Europa und den USA, sowie des wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenbruchs nichts Gutes für unseren Planeten.
Trotz alledem dürfen wir am OIB stolz auf das sein, was wir gemeinsam inmitten solcher Widrigkeiten letztes Jahr geschafft haben. Besonders hervorheben möchte ich die Vielzahl von erfolgreichen Veranstaltungen, die wir trotz allem in Beirut abgehalten haben. Wir haben im OIB eine weitere LAWHA-Konferenz durchgeführt; eine internationale Podiumsdiskussion mit unseren Partnern vom Arab Council for the Social Sciences und dem Finnischen Institut im Nahen Osten abgehalten; zwei Abendvorträge mit dem Arab Center for Research and Policy Studies in Beirut; sowie zwölf internationale Forschungskolloquien in Kairo und zwölf Theorie & Methoden Seminare für unsere zehn Stipendiat:innen in Beirut. Insgesamt fünfzehn Gastwissenschafter:innen und vier Hans-Robert Roemer Fellows kamen im letzten Jahr ins OIB. Dr. Zeina Halabi, die seit Januar 2024 eine OIB-Referentenstelle inne hat, hat die Betreuung unserer neuen Kohorten von Stipendiat:innen übernommen und ein großartiges Programm zur Professionalisierung unserer Nachwuchswissenschaftler:innen entwickelt.
Ende 2024 haben drei Kolleg:innen nach acht turbulenten Dienstjahren unseren wissenschaftlichen Beirat verlassen. Ich bedanke mich herzlich bei Claudia Derichs (Beiratsvorsitzende), Christian Lange (stellvertretender Beiratsvorsitzender) und Beatrice Gründler für ihre Aufopferungsbereitschaft für das Institut. Gleichzeitig heiße ich fünf neue Beiratsmitglieder willkommen: Nadia al-Bagdadi von der Central European University in Wien, Sebastian Günther von der Universität Göttingen, Isabel Toral von der Freien Universität Berlin, Dietrich Jung von der University of Southern Denmark in Odense, und Maher Jarrar von der American University of Beirut.
Lassen Sie mich mit weiteren erfreulichen Institutsnachrichten abschließen, denn wir sind hocherfreut, dass drei unserer Mitarbeitenden Anschlussstellen bekommen haben: Dr. Hans-Peter Pökel wird uns in Richtung Bonn verlassen, wo er Bibliothekar für die Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen des Deutschen Archäologisches Institut wird. Dr. Sarah el-Bulbeisi tritt am 1. April 2025 eine akademische Ratsstelle an der LMU in München an. Und Dr. Sami Khatib hat einen Ruf an die Staatliche Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe erhalten. Dort ist er ab 1. April 2025 Professor für Kunstwissenschaft und Medienphilosophie.
Zu guter Letzt freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir am 16. Dezember 2024 einen eingetragenen Verein für OIB-Ehemalige und Freunde in Berlin gegründet haben. Es gab eine sehr rege Teilnahme mit 22 Präsenzteilnehmern und 16 Online-Teilnehmern. Nach drei Stunden positiv gestimmter Sitzung konnten wir in der Katholischen Akademie zu Berlin auf die Vereinssatzung, die Beitragsordnung und den Gründungsvorstand anstoßen (Foto).
Ich möchte mich von Herzen für die Beteiligung an dieser ersten Mitglieder-Versammlung bedanken. Herzlich gratulieren möchte ich hier unserem neuen Vorstand um Dr. Yvonne Albers, wissenschaftliche Koordinatorin im FU-Exzellenzcluster „Temporal Communities“ und Autorin der rezenten Monografie Beirut und die Zeitschrift Mawaqif: Eine arabische Intellektuellengeschichte, 1968-1994; Dr. Torsten Wollina, Akquisationsredakteur Islamwissenschaft bei de Gruyter; Dr. Carsten Walbiner, bis Anfang Dezember Direktor des DAAD-Büros in Kairo und Dr. Sara Binay, Referentin des Präsidenten der Hochschule Anhalt in Köthen. Wenn sie Mitglied werden möchten, schreiben sie bitte an Sara: sara.binay@dont-want-spam.web.de
Allen OIB-Mitarbeitenden gebührt für Ihre hervorragende Arbeit und unsere Zusammenarbeit in diesem Jahr großer Dank. Wir alle haben auch in diesem letzten Jahr ein enormes Gemeinschaftsgefühl und einen wunderbaren Teamgeist bewiesen und gezeigt, was wir auch in sehr schwierigen Zeiten zu leisten in der Lage sind. Ein besonderes Dankeschön möchte ich an dieser Stelle meiner Frau Andrea Kazzer aussprechen. Ohne sie hätte ich weder die Krisen des letzten Jahres meistern noch dieses Vorwort den geduldigen Herausgeber:innen rechtzeitig liefern können.
Ich wünsche, dass das OIB weiterhin ein Ort für Wissenschaftsfreiheit und offen für kritische Auseinandersetzungen mit historischen und aktuellen Themen bleibt.